HABEN ODER SEIN – DIE KLUFT ZWISCHEN RAFFGIER UND SELBSTENTFALTUNG
von Christoph Edenhauser & Markus Feistritzer
Unsere Gesellschaft scheint besessen vom Haben und immer mehr Habenwollen. Viele definieren sich über ihren Besitz. Sind wir tatsächlich zu Sklaven unseres Wirtschaftssystems geworden? Und vergessen wir dadurch auf das Sein? Mit diesen und ähnlichen Fragen, die sich der Soziologe Erich Fromm schon 1976 gestellt hat, beschäftigen wir uns im heutigen Blogbeitrag.
EIN HUMANISTISCHER DENKER SORGT FÜR AUFSEHEN
Der deutsche Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm (1900-1980) emigrierte 1933 aus dem Nazi-Deutschland in die USA, wo er schon bald als einer der einflussreichsten Psychoanalytiker galt. Von 1950-1956 lebte und lehrte der „Ideengeber“ in Mexiko City und verfasste diverse Bücher. Sein wohl bekanntestes Werk ist das 1976 erschienene Buch „Haben oder Sein“, das den Leser zum Umkrempeln des eigenen Lebens/der Gesellschaft anspornt.
IST DER TRAUM DER „NEUEN FREIHEIT“ SCHON AUSGETRÄUMT?
In seinem Buch beleuchtet Erich Fromm die gesellschaftliche Entwicklung kritisch: Seit dem Industriezeitalter scheint unbegrenzter Fortschritt, materieller Überfluss und persönliches Glück ständig zuzunehmen. Die Entwicklung des Computers trug vermutlich wesentlich zu der Annahme bei, „Götter der Technik“ werden zu können. Trotz aller Annehmlichkeiten wimmelt es von unglücklichen, einsamen und deprimierten Menschen. Die Frage „Was ist gut für den Menschen“ steht der Frage „Was ist gut für das Wirtschaftssystem“ gegenüber (Fromm 1976: o.S.).
HABEN ODER SEIN, DAS IST HIER DIE FRAGE!
Um leben zu können, müssen wir Dinge haben und es ist oberste Priorität, immer mehr zu besitzen, so die weitverbreitete Meinung in unserer modernen Konsumgesellschaft. „Sein“ sei ein großes Potenzial der Natur. Große buddhistische Meister z. B. unterscheiden zwischen Haben und der Existenzweise des Seins, schreibt Fromm bereits in den 1970er-Jahren. Der Genuss des Konsumentenglücks sei langfristig unbefriedigend und schaffe kein „Wohl-Sein“, sondern könne Neid und Habsucht schüren. Würde das „Sein“ in der Gesellschaft dominieren, wäre vermutlich für Frieden gesorgt, heißt es in dem Werk von Erich Fromm weiter. Anscheinend ist die Hoffnung auf Glück in Ländern, die sich ihre Träume noch nicht erfüllen konnten, am lebendigsten. In einer am Sein orientierten Gesellschaft werden die Tendenzen zum Haben „ausgehungert“ und die Tendenzen zum Sein „genährt“, so weitere Denkanstöße in dem Bestseller des bekannten Psychoanalytikers. An Aktualität ist das im Jahre 1976 verfasste Werk wohl kaum zu überbieten (Stichwort Burn-out und Finanzkrise). Nähere Informationen finden Sie in der inspirierenden Lektüre des promovierten Soziologen „Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“.
GETEILTES LEID IST MEHRFACHE FREUDE
Für Durchschnittsverdiener ist das Leben in teuren Großstädten kaum mehr leistbar. Not macht bekanntlich erfinderisch: Kein Wunder, dass sich immer mehr Menschen dem Trend „gemeinschaftlich bauen und wohnen“ anschließen.
"Wir haben jeder eine eigene Wohnung und sind keine Kommune, aber es gibt viele Gemeinschaftsräume als Treffpunkte", so Roberta Rastl, die Bewohnerin eines achtgeschossigen Mehrfamilienhauses in Wien. In dem Gebäudekomplex leben 70 Erwachsene und 30 Kinder, aufgeteilt auf 39 Wohneinheiten verschiedener Größe (Göres, 2017: o.S.).
Der „Verein für nachhaltiges Leben“, dem die Bewohner des besagten gemeinschaftlichen Bauprojekts angehören, macht seinem Namen alle Ehre: Das Gebäude wurde in Niedrigenergiebauweise errichtet und mit einer Photovoltaik-Anlage ausgestattet. Anstelle, dass sich jede Person einen eigenen PKW leistet, werden die Gemeinschafts-Autos von verschiedenen Bewohnern genutzt (für nähere Informationen klicken Sie bitte hier).
SHARING UND CARING: FOODCOOP
Die unzähligen Lebensmittelskandale, die erheblichen Umweltschäden und die teilweise erschreckenden Bedingungen, unter denen unsere Nahrung hergestellt wird, steigern das Interesse an Lebensmitteln aus kontrolliert biologischem Anbau. Unter anderem deshalb haben sich ehrenamtlich organisierte Zusammenschlüsse zu Lebensmittelkooperativen (kurz Foodcoops) gebildet. Foodcoops verfolgen das Ziel, günstige regionale und ökologisch hergestellte Produkte oder global fair gehandelte Waren zu beziehen, zu lagern und zu verteilen. Oftmals sind die Bedürfnisse der sich in Foodcoops engagierenden Menschen vielfältig wie die Foodcoops selbst (Mitgliederladen, Community Supported Agriculture etc.). Das fehlende Konkurrenzdenken, die Freiwilligkeit, soziales Denken und die solidarische Gemeinschaft sind ausgeprägte Grundsätze. Foodcoop-Mitglieder sind bestrebt, sich selbst und andere biologisch wertvoll zu ernähren: weniger Düngemitteleinsatz, geringere Umweltbelastung durch kurze Transportwege, Förderung saisonaler und biologischer Landwirtschaft etc. (Sense Lab 2017:11).
Wir sind eine Gesellschaft notorisch unglücklicher Menschen ..., die froh sind, wenn es ihnen gelingt, die Zeit "totzuschlagen", die sie ständig zu sparen versuchen.
Mit diesem zum Nachdenken anregenden Zitat von Erich Fromm und den besten Wünschen für eine glückliche Woche verabschieden wir uns für heute,
Markus Feistritzer & Christoph Edenhauser
VERZEICHNIS UND WEITERFÜHRENDE INFORMATION:
Die Biografie von Erich Fromm finden Sie hier.
Fromm, Erich: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, Stuttgart, 1976
Göres, Joachim: 70 Erwachsene, 30 Kinder, ein Haus, 2017, in Süddeutsche online
Sense Lab e.V. (Hrsg.): fair, bio, selbstbestimmt: Das Handbuch zur Gründung einer Food-Coop, Rostock, 2017
Einen Kommentar schreiben